Mark Twain wäre kein Verfechter der Börsenweisheit «Sell in May …» gewesen. Der grosse Erzähler war in seinen Ansichten viel radikaler – und ironischer. Leider nehmen Anleger die sogenannten Kalendereffekte an den Börsen tatsächlich ernst.

Jahreszeiten und die Übergänge spielen in der Marktpsychologie eine erhebliche Rolle, seit es Märkte und Börsen gibt. Die zwei bekanntesten der sogenannten Kalendereffekte sind der «Mark Twain Effect» sowie die alljährlich aus dem Munde von Experten wiederkehrende Empfehlung «Sell in May and Go Away» – sozusagen die Mutter aller Börsenweisheiten.

Der Satiriker und Erzähler Mark Twain liess sein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Aktienmärkten durch seine Romanfigur «Pudd’nhead Wilson» (Knallkopf Wilson) im Jahr 1894 sprechen, der ironische Weisheiten von sich gab: «Oktober, das ist einer der besonders gefährlichen Monate, um am Aktienmarkt zu spekulieren. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.» Im Jahr zuvor war der damals noch blutjunge Dow Jones Index von 50 auf unter 30 Punkte gecrasht.

Die zweite Weisheit fordert Anleger auf, im Monat Mai alles zu verkaufen – um allenfalls im Herbst wieder in die Märkte einzusteigen («… but Remember to Come Back in September»). Wie auch immer, summarisch sagen uns die Zitate eines: Die Börsen sind eigentlich das ganze Jahr über schlecht.
Dass dem nicht so ist, belegen nicht nur Statistiken – auch die Portfolios unserer Kunden. Was von saisonalen oder kalendarischen Effekten an der Börse zu halten ist, hat der vergangene Mai einmal mehr offenkundig gemacht. SMI und DAX stiegen um 3 und 5 Prozent. So sicher wie das Amen in der Kirche hatten im April sogenannte Marktbeobachter empfohlen: «Sell in May …»
Konnten wir wissen, dass im Mai die Märkte so steil anstiegen würden? Nein. Und wissen wir, wie der Rest des Jahres an den Börsen verlaufen wird? Nein, das wissen wir nicht. Was wir wissen ist: Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der Aktien sind günstig, die Unternehmensgewinne sind robust, das ökonomische Umfeld ebenso. Zudem sind die Zinsen bei null – sie werden es voraussichtlich bleiben – und das Wichtigste zum Schluss: Die Stimmung an den Märkten ist mies!

Mark Twain schrieb seinen «Knallkopf Wilson» in einer Marktdepression, aber ohne das banalste aller Sprichwörter zu konsultieren: «Auf Regen folgt Sonnenschein.» An den Märkten ist das so: Eine Rallye wird in Depressionen geboren, sie gewinnt an Fahrt in einer sich ständig bessernden Stimmung – um dann in Euphorie zu sterben. Es ist nicht schwer zu erraten, an welchem Punkt des Zyklusʼ wir uns gerade befinden.

Was tun aber jene Anleger, die bis September warten, um wieder Aktien zu kaufen? Sie verpassen es, günstige und dividendenstarke Aktien mittelgrosser Unternehmen zu kaufen. Wir tun das und erzielen so einen soliden Anlageerfolg für unsere Kunden. Natürlich: Wir könnten auch warten, auf bessere Zeiten zum Beispiel.
Mark Twain würde auch davon abraten. Denn sein zweites berühmtes Börsenzitat lautet: «Es gibt zwei Zeiten im menschlichen Leben, in denen man nicht spekulieren sollte: Wenn man es sich nicht leisten kann, und wenn man es kann.»
Twain hatte als Investor keine glückliche Hand – und er hatte auf seine Weise recht. Der Dow-Jones-Absturz auf 30 Punkte war verheerend. Der Index brauchte ganze sieben Jahre, bis er pünktlich zur Jahrhundertwende wieder die 50 Punkte erreicht hatte. Nochmals 16 Jahre dauerte es bis die 100-Punkte-Marke fiel. Und pünktlich zur Jahrtausendwende waren es 10’000 Punkte. Ich wage die Behauptung, dass die 20’000 Punkte nur eine Frage der Zeit sind.

So sehr ich Mark Twain zu lesen liebe. Gott sei Dank habe ich mein Leben lang gegen seine Börsenratschläge gehandelt.

Mojmir Hlinka